Individuelle Gesundheitsleistungen (IGe-L) – die neue Individualmedizin?

5. Eppendorfer Dialog zur Gesundheitspolitik beleuchtet medizinische Versorgung

Wie individuell oder standardisiert darf eine medizinische Versorgung sein, die von der Solidargemeinschaft getragen wird? Steht individuelle Medizin für individuelle Gesundheitsleistungen – und damit Selbstzahlerleistungen? Hat die

Individualmedizin in unserem Gesundheitssystem überhaupt Chancen? Welchen Stellenwert hat die Ethik? Diese Fragen standen im Mittelpunkt der Diskussion beim „5. Eppendorfer Dialog zur Gesundheitspolitik“. Deutlich wird: Ohne standardisierte Wirksamkeitsnachweise gibt es keine Zulassung für neue individuelle Therapeutika und damit keine Aufnahme in den Leistungskatalog der GKV.

Referenten

Pharmakogenomik kennzeichnet innovative individuelle Therapeutika

Pharmakogenomik, Pharmakogenetik, Komplementärmedizin, Selbstzahlermedizin, individuelle Gesundheitsleistungen: Allein an der Begriffsdefinition scheiden sich die Geister. Die aus klinischer Sicht aktuellste und zukunftsweisende Definition beschreibt die Pharmakogenomik, die u. a. eine individuelle Arzneimitteltherapie anstrebt, bei der Patienten das für ihr Genmaterial maßgeschneiderte Medikament in der vorhergesagt wirksamen Dosierung erhalten. In Deutschland gibt es jährlich bis zu 58.000 Todesfälle durch Einnahme falscher Medikamente, was sich durch Pharmakogenomik ausschließen ließe. Zudem kann die maßgeschneiderte individuelle Therapie die Gesamtgesundheitskosten deutlich senken.

Richtlinien der Politik nehmen der Individualisierung ihre Chancen

Manch einer sieht solche Betrachtungsweisen durch gesundheitspolitisch verordnete Richtlinienmedizin bereits im Keim erstickt. Dr. Frank Ulrich Montgomery, Vizepräsident der Bundesärztekammer, betont, dass zwischen individuellen Gesundheitsleistungen und Individualmedizin die Wissenschaftsökonomie als Regulativ selbstverständlich unumgänglich ist. Aus seiner Sicht schränken aber die von Politik, Gemeinsamem Bundesausschuss und IQWiG aufgestellten Richt- und Leitlinien die Chancen für die individuelle Medizin auf drastische Weise ein. Für viele innovative individuelle Versorgungskonzepte gibt es keine hohe Evidenz, und oft fehlen die finanziellen Mittel für geforderte standardisierte Studien. Ein weiterer belastender Faktor: Ein Globalbudget wie der Gesundheitsfond verschärft den Verteilungskampf, so dass da kaum Platz für neue Verfahren ist. Montgomery: “Wir leben in einer freien Gesellschaft, in der man sich kaufen kann, was angeboten wird und was man bezahlen kann. Individuelle Gesundheitsleistungen und damit eine Mehrklassenmedizin sind damit unausweichlich.“

Chancen für individuelle Therapeutika sind vorhanden, müssen aber gesichert werden

Einen anderen Blick in Richtung Individualmedizin hat das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM vertreten durch PD Dr. Knöss, Leiter der Abteilung Besondere Therapierichtungen). Knöss lässt keinen Zweifel am Pluralismus der verfügbaren Therapieformen aufkommen. Alleine im Bereich der Besonderen Therapierichtungen eröffnen heute über 10.000 Arzneimittel viele Optionen für eine individuelle Medikation. Der wesentliche Anspruch muss aber sein, so Knöss, dass in jedem Fall die Qualität, Wirksamkeit und Unbedenklichkeit dokumentiert und bewertet wird. Nur durch diese Bewertung lässt sich die Grundlage für die sichere Anwendung von individuellen Arzneimitteln am Menschen schaffen. Deutschland gehört zu den Ländern mit den wenigsten Arzneimittel-Skandalen weltweit. Eine kritische Betrachtungsweise und die Dokumentation anhand randomisiert-kontrollierter Studien macht die Medizin in unserem Land sicher. Im Sinne dieses Patientenschutzes muss eine medizinische Innovation Effizienz und Unbedenklichkeit nachweisen, um zugelassen zu werden.

Zulassungs-Richtlinien für individuelle Therapeutika kaum erfüllbar

Aber können Maßstäbe für die Zulassung von Blockbuster-Arzneimitteln auch als Maßstäbe für die Bewertung individueller Arzneien gelten? Als Beispiel für die regulatorischen Hemmnisse einer medizinischen Innovation stellt PD Dr. Nolte, Medizinisches Labor Dr. Brunner, die autogene Vakzine bei chronisch-rezidivierenden Infektionen vor – ein seit 1903 bekanntes Therapieprinzip. Aus dem krankheitsauslösenden Erreger eines Patienten wird ein Erregerisolat als Antigen für die therapeutische Immunisierung eben dieses Patienten hergestellt. Die individuellen Impfstoffe, die Nolte für den Hersteller UniVaccin® erforscht, sollen unabhängig von der individuellen Resistenzsituation, antigenetischen Variation und Ausstattung mit Virulenzfaktoren machen. Nolte kann eine Erfolgsrate bis zu 80% bei Furunkulose, Osteomyelitis, Sekundärinfektionen bei diabetischem Fußsyndrom, rezidivierender Cystitis und Sinusitis nachweisen – bei gleichzeitiger Entlastung des Gesundheitswesens. Allerdings ist Evidenz bei dieser Individualtherapie kaum möglich. Somit ist die autogene Vakzine bislang unter den individuellen Gesundheitsleistungen zu finden – und steht sozial schwachen Patienten nicht zur Verfügung.

Individuelle Gesundheitsleistungen sind keine Individualmedizin

Inmitten der hitzigen Diskussionen über Zwänge und Appelle auf allen Seiten definiert der Dermatoonkologe und Theologe Prof. Volkenandt Individualmedizin gänzlich anders: Ethik als das Individuelle in der Medizin. Volkenandt spricht über die Individualität ärztlichen Handelns angesichts tagtäglicher Grenzen. Sich der eigenen Unwissenheit nicht durch Überheblichkeit zu entziehen, sondern den individuellen Patienten beachten, sich mit ihm zu solidarisieren, ihm Mitgefühl zu vermitteln, ist eine Tugend – und mehr wert als der Verkauf iindividueller Gesundheitsleistungen.

In zwei Punkten waren sich die Experten einig: Gute Medizin sollte grundsätzlich individuell auf den Patienten zugeschnitten sein. Individualmedizin darf nicht mit individuellen Gesundheitsleistungen gleichgesetzt werden.

Flyer zur Veranstaltung

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