Zurück in eine Vor-Penicillin-Ära oder gewappnet gegen Resistenzentwicklung?

23. Eppendorfer Dialog zur Gesundheitspolitik diskutiert Lösungsansätze aus der Antibiotikamisere

Referenten 23. Eppendorferdialog
Forderten konsequentes Vorgehen im Angesicht einer globalen Bedrohung: Dr. Rainer Höhl, Ute Leonhardt, Prof. Karin Kraft, Prof. Alena Buyx, Gitta Connemann und Prof. Achim Jockwig (v.l.n.r.)

(Hamburg, 26. März 2019) Das Thema ist bekannt, es ist todernst und lässt doch scheinbar viele Menschen unberührt. Bei der renommierten Hamburger Expertendebatte Eppendorfer Dialog zur Gesundheitspolitik wurde die Frage diskutiert, welche effektiven Strategien Verantwortliche im Gesundheitssystem verfolgen, um Antibiotikaresistenzen einzudämmen. Die Zahlen sind beunruhigend: Die Ausgaben für Antibiotika liegen GKV-weit bei jährlich rund 672 Millionen Euro. 90 Prozent davon kommen aus der ambulanten Verordnung. Im gleichen Zeitraum sterben in Deutschland 1.000 bis 4.000 Menschen mit nosokomialen Infekten durch multiresistente Erreger – weltweit sind es über 700.000. Die Entwicklung von Reserveantibiotika stagniert, die Forschung an Alternativen bekommt wenig Unterstützung. Tatsächlich hat die WHO multiresistente Keime Anfang 2019 zu einer der weltweit größten Gesundheitsgefahren erklärt und geht davon aus, dass 2050 mehr Menschen an den Erregern sterben als an Krebs. Antibiose, ein Grundpfeiler der modernen Medizin: Wie kann verhindert werden, dass die bahnbrechende Entdeckung der 1930er Jahre sich gegen uns wendet? Es gibt Strategien, Therapiealternativen, konkrete Maßnahmen und einige unbequeme Wahrheiten, die einen Ausweg aus der Antibiotikamisere weisen.

Referenten

Humanmedizin hinkt in Deutschland hinter der Veterinärmedizin her

Um die Resistenzentwicklung in den Griff zu bekommen, ist eine der Forderungen von Gitta Connemann, MdB (stellvertretende Vorsitzende der CDU/CSU-Bundestagsfraktion für die Bereiche Ernährung, Landwirtschaft, gesundheitlicher Verbraucherschutz u. a.) das Erfassen der Verordnungs­daten in der Humanmedizin. In der Veterinärmedizin funktioniert das bereits. Das systematische Erfassen der Antibiotikaanwendungen in einer zentralen Datenbank schafft eine transparente Datengrundlage für die Optimierung des Antibiotikaeinsatzes und das Ableiten von Reduzierungs­strategien. Gleiches sollte in der Humanmedizin zukünftig möglich sein, um Behandlungskategorien und Nutzungsintensitäten transparent zu machen und aus den Rückschlüssen das Risiko der Antibiotikaresistenzentwicklung zu senken. Der Weg ist lang und komplex.

Weitgehende Einigkeit bei deutscher Politik, aber international greifende Ansätze fehlen

Die deutsche Politik hat das Thema seit 1980 im Blick, hat 2008 die Deutsche Antibiotika-Resistenzstrategie DART entwickelt und 2015 mit DART 2020 die nationale Agenda zur Bekämpfung von Antibiotikaresis-tenzen verabschiedet, die in sektorübergreifender Zusammenarbeit (One-Health-Ansatz) alle Maßnahmen bündelt. Die Umsetzung läuft zäh; insbesondere das berechtigte Bestreben nach einem europäischen oder idealerweise internationalen Ansatz ist ein schwieriges Unter­fangen, wie Gitta Connemann einräumt. „Beispielsweise haben wir bei uns seit über 10 Jahren ein Verbot, Antibiotika als Wachstumsmittel einzusetzen. In den USA ist das erlaubt, und dieses Fleisch kommt auch zu uns.“ Zwar gibt es eine interministerielle Arbeitsgruppe Antibiotika-Resistenzen (IMAG AMR), die sich mit der übergreifenden Koordina­tion, Evaluierung und Anpassung der nationalen Antibiotika-Resistenzstrategie beschäftigt, bislang aber ohne Ergebnisevaluierung. So versucht man, von denen zu lernen, die es besser machen – etwa von den Niederländern, die wesentlich transparenter und restriktiver mit der Thematik umgehen – und konzentriert sich zunächst auf nationale Schritte wie die Datenerfassung, Umsetzung von Monitorings und Aufklärungsmodellen, um Wissen und Bewusstsein in Fachkreisen und Bevölkerung zu schärfen. Beängstigend sei vor allem, dass bei leicht rückläufigen Verordnungszahlen der Einsatz der Breitband- oder Reserveantibiotika ansteige, so Connemann. Ein Ausweg könnte das Modellprojekt RESIST der Ersatzkassen aufzeigen.

RESIST – Strategien zur Vermeidung nicht indizierter Antibiotikaverordnungen

Fast 40 Millionen Antibiotikarezepte werden in deutschen Arztpraxen jährlich ausgestellt, wovon rund 30 Prozent unnötig sind. Zu diesem Ergebnis kommt der Verband der Ersatzkassen vdek. Vor allem bei akuten Atemwegsinfekten kommen Antibiotika zu leichtfertig zum Einsatz. Es sind die falschen Vorstellungen der Patienten, von denen 76 Prozent bei einem Infekt ein Antibiotikum für den probaten Weg zu schneller Gesundung halten. Es sind Ärzte, die schnell bereit sind, ohne Testung das Medikament zu verordnen, um dem Erwartungs­druck des Patienten gerecht zu werden und Zeit für Erklärungen und durch Mehrfachkonsultationen zu sparen. All dem will RESIST begeg­nen. Ute Leonhardt (Stellvertretende Abteilungsleiterin, Abteilung Ambulante Versorgung beim vdek) stellt das Modellprojekt und erste Ergebnisse vor. RESIST läuft vom Dezember 2016 bis zum März 2020, 2.460 Ärzte (HÄ, HNO PÄD) nehmen gegen Honorierung teil. RESIST kombiniert Module für die Arzt-Patienten-Kommunikation sowie die ärztliche Fortbildung und einen sogenannten „Instrumentenkoffer“ mit vielfältigen Informationsmaterialien. Ausgewertet werden die quantitative Veränderung der Gesamtantibiotikaverordnungsrate pro Jahr sowie die konkrete Veränderungen bei Atemwegsinfekten als auch Primärdaten zur Wahrnehmung und Akzeptanz der neuen Versorgungsform. Die erste Zwischenerhebung nach zwei Quartalen scheint den Erfolg der RESIST-Initiative zu untermauern: Bei der Indikation „Infektion der unteren Atemwege“ geht die Verordnungsschere zwischen Projekt-Teilnehmern und Nicht-Teilnehmern deutlich auseinander. Gemäß der noch nicht offiziellen Zahlen lag die Rate bei Nicht-Teilnehmern bei 49 Prozent, bei Teilnehmern bei 36 Prozent. Mitte 2020 wird sich zeigen, ob das Projekt auf nationaler Ebene umgesetzt wird.

Antibiotika hoch dosieren und Einnahmedauer verkürzen

Aber auch andere Strategien greifen. Insbesondere richtiges Verhalten im Alltag. Dr. med. Rainer Höhl (Oberarzt am Institut für Klinikhygiene, Medizinische Mikrobiologie und Klinische Infektiologie, Antimicrobial Stewardship (AMS) am Klinikum Nürnberg) erläutert, wie ein adäquater Umgang mit Antibiotika im Alltag gesichert werden kann. Höhl: „Paul Ehrlich hat 1910 das erste Antibiotikum Arsphenamin gegen den Syphiliserreger vorgestellt und sagte, man müsse kräftig und schnell zuschlagen. Wir tun meist das Gegenteil.“ Unnötig breite, zu niedrig dosierte und zu lange Therapien in Klinik und Praxis haben Resistenzentwicklungen Vorschub geleistet. Neben dem Über- und Fehlgebrauch in der Human- aber auch Tiermedizin nennt Höhl als weitere Ursachen suboptimale Impfung, Hygienemängel, die gewissenlose Kontamination der Umwelt und modernes Reiseverhalten.

Die Lösung besteht aus einem Maßnahmen-Bündel. Es muss aufgeklärt werden, dass ein grippaler Infekt durch Viren ausgelöst wird und nicht antibiotisch behandelt werden darf, weil das eher schaden kann. Bei Indikation zur Antibiotikagabe z. B. bei einer ambulant erworbenen Lungenentzündung ist eine generelle Empfehlung „sieben Tage“ oder „bis die Packung leer ist“ unsinnig. Die niedergelassenen Ärzte sind in der Pflicht, zu informieren und restriktiver zu verordnen („so kurz wie möglich, so lange wie nötig“). In der Klinik lassen sich die Maßnahmen zur Begrenzung der Resistenzentwicklung durch „Antimicrobial Stewardships“ umsetzen. Ziel der Programme ist, die Qualität der Verordnungen von Antiinfektiva bezüglich Substanzwahl, Dosierung, Applikation und Anwendungsdauer zu verbessern, um beste klinische Behandlungsergebnisse unter Minimierung von Toxizität für Patienten sowie von Resistenz­entwicklung und Kosten zu erreichen. Ergänzt wird dieses Programm durch intensive Hygiene-schulungen. Im Klinikum Nürnberg ist das seit 2015 etabliert; ein großes Augenmerk liegt auf der Dosierung: Konzentrationsmessungen werden für nahezu alle Antibiotika, aber auch Antimykotika und antivirale Substanzen durchgeführt. Höhl: „In diesem bisher einmaligen Projekt konnten wir bei über 20 000 Messungen an über 1000 Patienten zeigen, dass bei etwa der Hälfte der Patienten Dosisanpassungen notwendig sind.“ Fazit: Wir können und müssen schlauer sein als die sehr schlauen Bakterien.

Viel häufiger an Alternativen denken: Phytoarzneimittel funktionieren

Ohnehin muss es nicht immer ein Antibiotikum sein. Einige Arzneipflanzen haben ein erhebliches antiinfektives Potenzial, was bislang von der Forschung vernachlässigt wurde. „Erst die zunehmenden Antibiotikaresistenzen haben eine ernsthafte Aufmerksamkeit für die Phytotherapie gebracht“, sagt Prof. Dr. med. Karin Kraft (Stiftungsprofessorin für Naturheilkunde an der Universität Rostock und Präsidentin der Gesellschaft für Phytotherapie). Prof. Kraft zeigte auf, dass Arzneipflanzen und deren ätherische Öle antiinfektiv wirken. So hat sich z. B. die Kombination von Eukalyptus-, Süßorangen-, Myrten- und Zitronenöl bei Erkältungskrankheiten als sehr wirksame Therapieoption bewährt. Da für einige Phytopharmaka randomisierte kontrollierte klinische Studien vorliegen, wurde in neuere deutsche medizinische Leitlinien z. B. zur Therapie von Rhinosinusitis, Husten und unkomplizierten Harnwegsinfektionen Empfehlungen für deren Einsatz aufgenommen. Die pflanzlichen Arzneimittel haben geringe Nebenwirkungen und vor allem keine Resistenzbildungen. Prof. Kraft: „Besonders bei leichten bakteriellen Infektionen oder zur Behandlung wiederkehrender Infekte sind diese Arzneimittel hoch effektiv. Bei 90 Prozent der Atemwegsinfekte brauchen wir keine antibiotische Therapie.“ In Österreich etwa ist der Einsatz von pflanzlichen Antiinfektiva in der stationären Wundbehandlung bereits vorgeschrieben. Prof. Kraft hofft, dass sich das auch in Deutschland durchsetzt. Auch fordert sie seitens der Politik mehr Forschungsunterstützung. Bislang kommen Forschungs-gelder fast ausschließlich aus der Pharmaindustrie. „Forschung an Antibiotika-Alternativen ist ein gesellschaftliches Erfordernis“, so Kraft.

Eine ethische Frage: Nur rationalisieren oder zukünftig auch rationieren?

Ethischen Sprengstoff lieferte Prof. Dr. med. Alena Buyx, M. A. phil. (Professorin für Ethik der Medizin und Gesundheitstechnologien, Direktorin des Instituts für Geschichte und Ethik der Medizin der Technischen Universität München, Mitglied im Deutschen Ethikrat). Sie warf die Frage nach einer gerechten Verteilung effektiver Antibiotika auf, wenn diese als knappe Ressource betrachtet werden. Darf es ein Konzept des rationalen Antibiotikagebrauchs geben, das entweder nur eine Eliminierung des medizinisch nicht indizierten Antibiotikaeinsatzes oder aber eine weitergehende Einschränkung des Verbrauchs nach sich zieht, bei der auch Therapien mit klinischem Nutzen ausgeschlossen werden? Sprich: Steht Gemeinwohl vor Individualwohl? Wenn ja, so Prof. Buyx, kann z. B. von einem um 1 Prozent erhöhten Todesrisiko bei Bronchitiden ausgegangen werden. Prof. Buyx: „Wir müssen konkreti­sieren, was mit dem Medizinethos einer optimalen Versorgung des Patienten gemeint ist.“ Für ein nebulöses Allgemeinwohl individuell Opfer bringen zu müssen, ist eine These, die aufrüttelt, die Diskussion befeuert und doch dramatischer als andere Szenarien auf den Punkt bringt, was schnellstens getan werden muss: Die antibiotische Wirksamkeit muss quantifiziert und die Verantwortung für deren Einsatz massiv aufgewertet werden.

Die Diskussionen bei diesem Eppendorfer Dialog zur Antibiotikamisere fanden lange kein Ende. Mehr als deutlich ist geworden, dass mit der Aufklärung über dieses Thema insbesondere auch in der Bevölkerung bisher viel zu lasch umgegangen worden ist. Die Gesundheitspolitik muss in diesem Bereich investieren – und ebenso in die Erforschung von alternativen Medikamenten. Prof. Dr. med. Achim Jockwig (Professor an der Hochschule Fresenius und Vorstandsvorsitzender des Klinikums Nürnberg), der die Veranstaltung gewohnt souverän moderierte und leitete, sagt in seinem Fazit: „Wir sehen, dass die bisherigen Bemühungen noch nicht ausreichen, um effektiv gegen die Resistenzentwicklungen vorzugehen. Bevor wir über Rationierung nachdenken, müssen wir alle Bestrebungen in die Rationalisierung stecken und innovative Projekte fördern.“

Präsentation der Referenten

Ute Leonhardt zum Thema Initiative der Ersatzkassen am Beispiel des Modellprojekts RESIST

Dr. med. Rainer Höhl zum Thema Strategien in Klinik und Praxis zur Vermeidung von Antibiotikaresistenzen

Prof. Dr. med. Karin Kraft zum Thema Potenzial pflanzlicher Arzneimittel bei Infektionen der Harnwege und des Respirationstraktes

Prof. Dr. med. Alena Buyx, M. A. phil. zum Thema Ethische und gesellschaftliche Herausforderungen von Antibiotikaresistenzen

Flyer zur Veranstaltung

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