10 Jahre Rabattausschreibungen: Wie steht es um die Versorgung der Patienten?

21. Eppendorfer Dialog zur Gesundheitspolitik diskutiert zum Thema Rabattverträge

Gruppenbild 21. Eppendorfer Dialog
Experten ohne Einigung – die Bewertung der Rabattverträge blieb umstritten. V. l. n. r.: Prof. Dr. Stephan Schmitz, Dr. Christopher Hermann, Prof. Dr. Achim Jockwig, Dr. Martin Zentgraf, Prof. Gerd Glaeske, Thomas Stritzl

(Hamburg) Am 1. April 2007 kam im Rahmen des GKV-WSG mit den Rabattverträgen ein Instrument an die Macht, das der Kostenexplosion im Gesundheitswesen entgegenwirken sollte. Auch zehn Jahre später hat das Thema noch Sprengkraft und trifft bei den Akteuren des Gesundheitswesens auf keinen Konsens, wie der 21. Eppendorfer Dialog zur Gesundheitspolitik am 14. Juni 2017 in Hamburg zeigte. Selten zuvor war Chairman Prof. Achim Jockwig mit so kontrovers argumentierenden Referenten konfrontiert. Von einigen Experten als erfolgreiches Werkzeug zur Versorgungs- und Ausgabensteuerung gelobt, bewerteten andere die Bereiche Evaluation, Liefersicherheit und Oligopolbildung kritisch. Aus der Politik kam gar ein Plädoyer für höhere ethische Standards im Rahmen der Ausschreibungen. Die Abhängigkeit von internationalen Märkten wurde genauso düster gezeichnet wie die Aussichten für das Bestehen pharmazeutischer Mittelständler und in der Folge die Versorgungssicherheit der Bevölkerung. Am Ende war man sich nicht einmal mehr einig über die Höhe der Einsparungen. Rabattausschreibungen in Deutschland – ein Thema, über das noch lange nicht alles gesagt ist!

Referenten

Wenn sich im Hamburger Völkerkundemuseum Experten des Gesundheitssystems und engagierte Zuhörer zu den Eppendorfer Dialogen zur Gesundheitspolitik treffen, sind Diskussionen Programm. Die 21. Veranstaltung am 14. Juni hatte das Thema „10 Jahre Rabattausschreibungen: Wie steht es um die Versorgung der Patienten?“ Chairman Prof. Dr. med. Achim Jockwig (Geschäftsführender Direktor der Carl Remigius Medical School, einer Einheit des Fachbereichs Gesundheit & Soziales der Hochschule Fresenius) führte mit viel Geschick durch die hitzige Debatte. Die wissenschaftliche Sicht vertrat Prof. Dr. Gerd Glaeske (Versorgungsforscher, Universität Bremen), anschließend schilderte der „Vater der Rabattverträge“ Dr. Christopher Hermann (Vorstandsvorsitzender AOK Baden-Württemberg) die Perspektive der Krankenkassen. Dr. Martin Zentgraf (Vorstandsvorsitzender BPI) erläuterte die Probleme insbesondere der mittelständischen Industrie, Prof. Dr. Stephan Schmitz (Vorstandsvorsitzender BNHO) sprach für die Ärzteschaft und Thomas Stritzl (MdB, Mitglied im Gesundheitsausschuss) spannte den Bogen zu politischen Visionen und Rahmenbedingungen.

Plädoyer für Versorgungsforschung: Wie soll man bewerten, worüber man zu wenig weiß?

Gleich zu Beginn machte Gerd Glaeske deutlich: Rabattverträge sind ein wirksames Mittel zur Kostenreduktion, jedoch müssten bestimmte Begleiterscheinungen näher untersucht werden. Dazu gehören die Mengenkomponenten, aber auch die nachlassende Preissensibilität der Ärzte sowie die Austauschfähigkeit der Generika. Die unterschiedliche Bioverfügbarkeit, z. B. bei Antiepileptika und bei Immunsuppressiva, sei ein Problem. „Ich kann nicht akzeptieren, dass dieser Effekt noch immer geleugnet wird!“ betonte Glaeske. Die Austauschverbotsliste von 2014 nehme sich dieses Themas zwar an, greife aber noch zu kurz. Zudem werde der Qualität der Versorgung sehr viel weniger Aufmerksamkeit geschenkt als dem ökonomischen Aspekt, zum Beispiel im aktuellen Arzneiverordnungsreport. „Das hat mich erstaunt und nachdenklich gemacht“, so Glaeske. Denn wie will man ein Instrument bewerten, wenn der Patient als entscheidender Faktor kaum mit in die Betrachtung einfließt? Nur, weil etwas Geld spare, sei es nicht zwangsläufig gut. „Ich kenne keine unabhängige Evaluation der Rabattverträge, das ist etwas, das ich gerne hätte.“ Der Innovationsfonds sei erst ein Anfang der notwendigen Versorgungsforschung.

Kostenentlastung, Liefersicherheit, Anbieterfreundlichkeit

Keine Zweifel an der Erfolgsgeschichte der Rabattverträge zeigte Christopher Hermann, Initiator und Verhandlungsführer der Ausschreibungen des AOK-Systems. Deutschlandweit beträgt das derzeitige Einsparvolumen 3,9 Mrd. Euro. Das entspricht 0,3 Beitragssatzpunkten, wie Hermann verdeutlichte. Er sieht sich nicht als Kostenträger, sondern als Mitspieler bei der Versorgung von mehr als 4 Mio. Versicherten allein in der AOK Baden-Württemberg. Diese profitieren neben der Beitragsstabilität von vollständiger Zuzahlungsbefreiung, was 2016 ein Kostenfaktor von 35 Mio. Euro war. Weitere Vorzüge des Systems laut Hermann: Die Oligopolbildung werde reduziert, da kleinere Unternehmen durch das überwiegend genutzte Einpartnermodell eine Chance und Planungssicherheit bekämen. Zudem sei die Liefersicherheit aufgrund der hohen Transparenz einzigartig. „Wir müssen von der falschen Diskussion wegkommen, wir hätten ein Problem bei der Versorgung mit Rabattarzneimitteln.“ Der dringende Optimierungsbedarf bestehe im Patentbereich und bei Klinikarzneimitteln. Er forderte für diese Segmente eine Verpflichtung zur Meldung von Lieferproblemen an das BfArM als „Trustcenter“. Und in Reaktion auf Glaeske ergänzte er: „Wenn Austauschbarkeit nicht funktioniert, dann darf es auch keine Rabattverträge geben, das ist aber kein Problem der Rabattverträge.“

Kein hoffnungsloser Fall trotz erreichter Schmerzgrenze: Mindestlösung Mehrfachvergabe

Martin Zentgraf reagierte direkt auf seinen Vorredner: „Im generischen Markt findet eine Turboisierung des Preisverfalls statt. Heute fließen nur noch 10 Prozent der Arzneimittelkosten in knapp 80 Prozent der verschriebenen Arzneimittel – die Belastungsgrenze ist erreicht! Die Richtung, in die es läuft, ist mittelstandsfeindlich und gemeingefährlich, sie führt zu Oligopolisierung.“ Die Folgen seien auch für die Versicherten fatal: So hätten die drei führenden Hersteller bei generischen Wirkstoffen eine Marktkonzentration von bis zu 100 Prozent. Wenn einer dieser Hersteller ein Lieferproblem bekomme, könne niemand Ausfälle im Bereich der Basistherapie verhindern. Darüber hinaus komme es zu einer Verknappung der Darreichungsformen, indem beispielsweise Filmtabletten oft durch billiger zu produzierende Tabletten substituiert würden, die aber für Patienten weniger gut zu schlucken seien. Zudem würden auch Wirkstoffe unterschiedlicher Konzentration substituiert. Das führe im Bereich eines Kinderarzneimittels gegen Epilepsie zum Austausch einer Lösung mit 60 mg/ml durch ein Produkt mit 300 mg/ml. Die Verantwortung hinsichtlich der geänderten Dosierung werde Ärzten oder Apothekern zugeschoben, was weder verantwortungsvoll noch gerecht sei. Die Ärzte hätten zwar die Therapiehoheit, befänden sich aber oft in einer Vermeidungshaltung aus Sorge vor Regress. Unter Berücksichtigung von Arzneimittelsicherheit, Lieferfähigkeit und wettbewerblicher Fairness gestand Zentgraf dem Instrument der Rabattverträge allerdings durchaus seine Berechtigung zu. „Die Mehrfachvergabe bietet die Möglichkeit, kontinuierliche Versorgung zu gewährleisten und mehreren Herstellern gerecht zu werden.“ Als weitere Voraussetzungen für zukunftsfähige Rabattverträge nannte er u. a. das Verbot von Ausschreibungen bei weniger als vier Anbietern, die jeweilige Integration von mindestens einem Anbieter mit europäischer Produktionsstätte, keine Rabattverträge bei versorgungskritischen Wirkstoffen sowie Substitution nur bei Identität.

Abschaffung der Ausschreibung von Zytostatika-Zubereitungen als Erfolg

Aus onkologischer Sicht mit dem Patienten als einzige Richtgröße berichtete Stephan Schmitz. Er begrüßte die aktuelle Abschaffung der Ausschreibungen für Zytostatika-Zubereitungen im Zuge des Arzneimittelversorgungsstärkungsgesetzes (AMVSG). Begründet wurde die Abschaffung mit dem besonderen Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Patient im onkologischen Bereich und der komplexen Zubereitung von Zytostatika als Teil einer individuellen Gesamtversorgung. An Stelle der Ausschreibungen werden nun die Hilfstaxe gestärkt und Rabattverträge mit pharmazeutischen Herstellern vorgesehen. Inwieweit das parallele Bestehen zu Versorgungsengpässen führt, muss die Zukunft zeigen.

Zum Spagat zwischen Preisregulierung und Versorgungssicherheit

Als letzter Redner der Runde fasste Thomas Stritzl die Rahmenbedingungen des Gesundheitssystems in Hinblick auf die Rabattverträge zusammen. Die Politik müsse Preisdämpfungsmechanismen etablieren, damit die Bevölkerung trotz der demographischen Entwicklung angemessen versorgt werden könne. Das Rabattsystem habe entscheidend dazu beigetragen, Kosten zu regulieren. Die Zahlen zeigten aber, dass der Zenit erreicht sei und man nun nach Versorgungssicherheit, Marktverhalten und Wirkstoffherstellungssicherheit fragen müsse. Einerseits sei es die Aufgabe der Politik, den Lebensstandard der Bevölkerung zu erhalten, andererseits würde der Preiswettbewerb im Rahmen von Ausschreibungen das Lohnniveau verringern und eine Verlagerung der Produktion ins Ausland fördern, bei der man schlechte Arbeitsbedingungen, geringe Umweltstandards und Produktionsrisiken in Kauf nehme. Als mögliche positive Anreize brachte Stritzl Dual Track, die Vergabe des Zuschlags gegen die Auflage hoher Produktionsrichtlinien, ins Gespräch. Auch steuerrechtliche Anreize für die Forschung und eine Indexierung der Preise könnten eine Lösung darstellen. In jedem Fall gelte es zu verhindern, dass Firmen, die mit hohen Sicherheitsstandards produzierten, in Deutschland ein Nachteil entstünde.

Diskussion: Wird die Produktion in Deutschland bestraft, haben wir längst eine Mangelsituation und sind die Ersparnisse korrekt berechnet?

Bei der anschließenden Diskussion brachte sich das Auditorium engagiert und facettenreich ein. Ein Beitrag griff die Sicherheitsbedenken von Stritzl auf und veranschaulichte, dass in Deutschland produzierende mittelständische Unternehmen im System längst abgestraft werden. Die Anwendung von Rabattverträgen auf Kleinstmärkte stelle ein existenzielles Problem für Anbieter und in der Folge ein Versorgungsproblem für die Patienten dar. Der konkrete Fall betrifft den essentiellen Wirkstoff Glyceroltrinitrat in Sprayform. Bei nur noch zwei aktiven Herstellern auf dem deutschen Markt, die sich seit Jahren gezwungenermaßen gegenseitig in einer Rabattspirale überbieten, erreicht der Abgabepreis bald den Herstellerpreis. Wenn nicht politisch nachgebessert wird, beispielsweise über die oben beschriebene Mehrfachvergabe, besteht die Gefahr, dass eines der Unternehmen sich komplett aus dem deutschen Markt zurückzieht.

Weitere Einwände kamen von Apothekern, die von großflächigen Ausfällen und Mangelsituationen berichteten. Ärzte äußerten sich angesichts der Forderung nach der Durchsetzung ihrer Therapiehoheit auch in Anbetracht der aktuellen Richtgrößenablösungen verunsichert. Und am Ende der Diskussion kamen sogar Zweifel am scheinbaren Konsens der Kosteneinsparung von 3,9 Mrd. Euro auf. Denn dieser Wert berücksichtige weder die Preise der Produkte, die ohne Rabattverträge verordnet würden, noch weitere Mechanismen der Preisregulierung und vor allem auch nicht die Folgekosten der Rabattverträge, die sich beispielsweise aus sinkender Compliance ergeben.

Das Fazit der Diskussion beim 21. Eppendorfer Dialog: Das System braucht Preisregulierungs-mechanismen, und Rabattverträge sind geeignet, um Kosten zu sparen. Eine unabhängige Evaluation der ersten zehn Jahre und entsprechende Anpassungen sind aber nötig, um Gefahrenquellen wie Oligopolbildung, Lieferprobleme, sinkende Arzneimittelsicherheit, Reduktion der Darreichungsformen und schlechte Compliance-Werte auszuschließen und einen Überblick über die durch die Rabattverträge ausgelösten Folgekosten in die Bewertung der Kosteneinsparungen aufzunehmen.

Präsentationen der Referenten

Prof. Dr. Gerd Glaeske: Rabattverträge: Wirkung belegt. - Und wie steht‘s um die Nebenwirkungen?

Dr. Christopher Hermann: Verfügbarkeit von Arzneimitteln - inner- u. außerhalb d. rabattvertragsgeregelten Rahmens

Dr. med. Martin Zentgraf: Rabattverträge - ist Geiz geil, gefährlich oder eine große Chance?

Prof. Dr. Stephan Schmitz: 10 Jahre Rabattausschreibungen: Wie steht es um die Versorgung der Patienten?

Übersicht