Arzneimittelversorgung der Zukunft: Bleibt die Apotheke vor Ort?

24. Eppendorfer Dialog diskutiert die Herausforderungen für die ortsansässigen Apotheken

24.Eppendorferdialog Referenten
Diskutierten die Herausforderungen für die ortsansässigen Apotheken: Michael Hennrich, Steffen Kuhnert, Max Müller, Corinna Mühlhausen, Dr. Kerstin Kemmritz und Prof. Achim Jockwig (v.l.n.r.)

(Hamburg) Rund 19.200 Apotheken stellen in Deutschland die wohnortnahe Versorgung mit Arzneimitteln sicher. Allerdings geht die Zahl der Apotheken in den letzten Jahren zurück. Bietet die unaufhaltsame Digitalisierung den Apotheken gute Chancen, sich dauerhaft zu behaupten? Welche Rolle spielt der Versandhandel? Ist in diesem Umbruchprozess die persönliche Betreuung und pharmazeutische Beratung von Patienten in der ortsansässigen Apotheke in Gefahr? Diesen Fragen ging die renommierte Expertendebatte Eppendorfer Dialog zur Gesundheitspolitik am 4. Dezember 2019 in Hamburg nach. Fazit: Selbst wenn es grundsätzlicher politischer Wille ist, die Ortsapotheken in ihrem Wettbewerbsumfeld zu stärken, so liegt es vorrangig am Unternehmergeist von Apothekern und Apothekerinnen, durch empathische Beratung von Mensch zu Mensch, innovative Produkte, digitale Lösungen, Services und Prozessoptimierungen den veränderten Marktanforderungen erfolgreich zu begegnen und sich als Gesundheitspartner für die Menschen zu positionieren. Das Ringen um den Status quo allein ist keine Lösung.

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Der deutsche Apothekenmarkt befindet sich seit Jahren im Umbruch: Digitalisierung, zunehmende Relevanz des Arzneimittel-Versandhandels, sinkende Anzahl der öffentlichen Apotheken bei gleichzeitig starker Zunahme von Filialapotheken. Mit rund 51 Mrd. Euro Gesamtumsatz in Deutschland – davon 80,9 Prozent durch rezeptpflichtige Arzneimittel – und ca. 161.000 Arbeits­plätzen in den Ortsapotheken ist das Apothekengeschäft ein wichtiger Wirtschaftsfaktor mit sehr hoher Relevanz für die Gesundheit der Bevölkerung. Doch Denken und Handeln in der Gesellschaft ändern sich, die bequemen Vorteile der Digitalisierung sind auch aus der pharmazeutischen Welt nicht mehr wegzudenken. Die Frage der Expertendebatte „Arzneimittelversorgung der Zukunft: Bleibt die Apotheke vor Ort?“ wird von den Diskutanten daher auch einhellig mit „Ja! Aber meist nicht so wie jetzt.“ beantwortet.

Die Chance der Apotheken liegt in der Änderung des Geschäftsmodells

CDU-Arzneimittelexperte Michael Hennrich, MdB, blickt besorgt auf den Rückgang der Ortsapotheken. „Ich war auch nach dem EuGH-Urteil von Oktober 2016 für ein Rx-Versandhandelsverbot, weil ich die ortsan­sässige Apotheke für wichtig halte“, so Hennrich, der Verfechter der Gleichpreisigkeit von Orts- und Versandapotheke ist. Allerdings habe der Bürger und Wähler das letzte Wort, und der habe ihn häufig verständnislos angeschaut. Nicht nur, weil viele die Digitalität als positive Errungenschaft ansehen, sondern auch wegen zunehmender Versorgungsprobleme in ländlichen Regionen. Da der Versandhandel nicht mehr wegzudenken ist, brauchen Apotheken eine Änderung ihres Geschäftsmodells in Richtung Spezialisierung. „Impfungen, Cannabis, Diabetes-, Onkologie- oder Präventionsexpertise werden für die ortsansässigen Apotheken eine wichtige Rolle spielen.“ Dem Apotheken-Fachpersonal werde eine hohe Wertschätzung entgegengebracht. In Kombination mit Empathie, der breiten pharmazeutischen Kompetenz und dem Willen zur digitalen Modernisierung sei das ein schweres Pfund, das den ortsansässigen Apotheken den Weg in eine erfolgreiche Zukunft ebnen kann, so Hennrich.

Mehr Initiative und die Finanzierung von Dienstleistungen für „Make Pharmacy great again“

Auch Dr. Kerstin Kemmritz, Präsidentin der Apothekerkammer Berlin und selbst Apothekeninhaberin, ist der Ansicht, dass Ortsapotheken mehr als vier Asse im Ärmel haben. „Wir sind niedrigschwellige Ansprechpartner und müssen unsere heilberuflichen Kompetenzen mehr in den Vordergrund stellen und bezahlen lassen.“ Als Gesundheitsmanager, Gatekeeper und Therapiebegleiter sieht Kemmritz die Apotheken als unersetzlich an. Die Apotheken könnten in der Primärversorgung eine größere Rolle spielen, wenn sie sich zum zentralen Bestandteil des Public-Health-Netzwerks ausbilden. Dazu gehört, dass die Beratungs- und Gesundheitsmanager-Dienst­leistungen von den Krankenkassen bezahlt werden. Vorstellbar wäre ein in anderen Ländern bereits erprobtes dreistufiges Kompetenz-Modell („Berliner-Modell“ der PharmDL), mit dem die Apotheken je nach zertifiziertem Kompetenzgrad mit den Kassen abrechnen könnten. Auch im Aufbau von E-Akten mit dem E-Rezept sieht Kemmritz eine große Chance. „Wir können digital – und das in Kombination mit natürlicher Intelligenz und Nähe zum Menschen.“ Die Apotheken haben die Chance, nicht nur Herausgeber von Arzneimitteln, sondern ein begehrter Gesundheitspartner sein. „Wir müssen uns dem Wettbewerb stellen.“

Nur einer entscheidet, wie Apotheke funktioniert: der Verbraucher

Der vermeintliche Wettbewerb sind die großen Versandapotheken. Zu Recht betont Max Müller, Mitglied des Vorstandes bei DocMorris und Präsident des Europäischen Verbandes der Versandapotheken EAMSP, dass es dieses Geschäftsmodell ohne Nachfrage nicht geben würde. Die Treiber für die Veränderungen in der Apothekenlandschaft sind einzig und allein die Kunden. DocMorris hat den Trend und die dadurch bestehende Chance frühzeitig erkannt und das Geschäftsmodell konsequent ausgebaut. Laut Müller hat DocMorris rund 6 Mio. Kunden, beschäftigt 130 Pharmazeuten sowie PTA für die Kundenberatung und gibt täglich 46.000 schriftliche Hinweise zur AMTS, davon 11.000 zu Wechselwirkungen, 3.000 zu Doppelverordnungen und 32.000 zu Wechselwirkungen zwischen Nahrungs- und Arzneimitteln heraus. „Wir agieren zukunfts-, bedarfs- und serviceorientiert und haben viel von dem bereits umgesetzt, das die ABDA jetzt noch diskutiert.“ Müller wehrt sich gegen die – wie er sagt – immer gleichen Verunglimpfungen durch die deutsche Apothekerschaft. „Wir zahlen Steuern, wir kaufen zu denselben Preisen ein wie jede Ortsapotheke, wir bieten fachkompetenten Service, schulen unsere Mitarbeiter ständig, machen Big Data, gleichen Bestellungen auf Sinnhaftigkeit ab und sorgen für eine schnelle und sichere Arzneimittel-Versorgung.“ Boni sieht Müller nicht als treibende Kraft für Online-Bestellungen. Vielmehr wäre der Online-Versandhandel so einfach und effizient, wie der Verbraucher es sich heutzutage wünscht. „In ländlichen Regionen ohne vernünftige Versorgung wird die Digitalisierung zukünftig die einzige Chance sein. Und wenn es die Ortsansässigen nicht schaffen, Kunden in ihre Apotheke zu holen, dann haben sie verschlafen, dass sich Einkaufs- und Gesundheitsverhalten geändert haben“, so Müller.

Apotheken sollten geänderte Werteorientierung der Menschen stärker beachten

Wer ist der Kunde, der die ortsansässige Apotheke der Online-Apotheke vorzieht – und wird es ihn auch in Zukunft noch geben? Dazu präsentiert Corinna Mühlhausen, Professorin für Trend- und Zukunftsforschung, eine aktuelle Milieuforschungsstudie. Im Ergebnis hat sich die Bedeutung von Gesundheit erheblich gewandelt: Natürlich ist es wichtig, nicht krank zu sein, aber noch wichtiger sind heute das persönliche Wohlgefühl und die Fitness. „Apotheken sollten sich damit beschäftigen, dass viele Menschen von sich behaupten, dass sie Selbstoptimierer sind, weil sie glücklich sein wollen“, so Mühlhausen. Selbstoptimierung wird zum Megatrend – und wird das Thema Gesundheit weitreichend beeinflussen. Vertrauen in die Apotheke an der Ecke haben laut Studie auch zukünftig nicht nur ältere Menschen, sonderen solche, die ihren Körper in einer gesunden Balance halten wollen und dafür kompetenten Rat und Konzepte suchen. Mühlhausen: „ Es lohnt sich, sich mit dem Typus, dem Milieu des Patienten zu befassen, denn sich hierauf einzustellen, ist eine riesige Chance für Apotheken.“

Die packungsbezogene Vergütung entspricht keiner unternehmerischen Denke

Apotheker und Gesundheitsexperte Steffen Kuhnert sieht seine Kollegen in einem „Realitätsschock“ mit Blick auf die rasante Digitalisierung, den Einsatz künstlicher Intelligenz und die Entwicklung der Online-Apotheken. „Ist es unsere Identität, Packungen aus dem Regal zu nehmen? Wann fangen wir an, unternehmerisch zu denken und für unsere Dienstleistung zu kämpfen?“ Kuhnert mutmaßt, dass Apotheken ihre Situation falsch einschätzen. Der Apotheker als reiner Logistiker sei ein Auslaufmodell, über Alternativen werde debattiert, aber kaum etwas initiiert. „Wir brauchen starke Partner, alleine schaffen wir die Zukunft nicht“, so Kuhnert. An der ABDA übt er Kritik: Zu viele Entwicklungen seien schon an den Apotheken vorbeigegangen. „Warum ist beim Thema Google & Co. von unserer Standesvertretung nichts zu sehen? Warum haben wir noch keine Videochat-Funktion 24/7? Warum gibt es Gesundheitstracker bei Media-Markt und Apple, aber nicht in der Apotheke?“ Letztendlich habe die Apothekerschaft es weitgehend verschlafen, sich mit heutigen und zukünftigen Bedingungen des Marktes auseinanderzusetzen. „Wir können das alles auch. Das E-Rezept ist eine echte Chance für die Orts-Apotheke – und es wird kommen.“ Wo aber ist die App, mit der der Patient seine nächstgelegene Apotheke findet und das Medikament per Rezept bestellen und auch gleich bezahlen kann? Die Expertise der Pharmazeuten wird für Kuhnert zu dürftig dargestellt, und entsprechend halte der Verbraucher zwar viel vom Arzt, aber wenig vom Apotheker. „Unsere Chancen sind offensichtlich. Aber wir müssen sofort mit konkreten Schritten losgehen“, so sein Appell.

Fazit des 24. Eppendorfer Dialogs: Ja! Die Apotheke vor Ort hat Zukunft – aber der Wandel der Gesellschaft stellt sie vor Herausforderungen. Die ortsansässigen Apotheken müssen marktrelevante Konzepte in Umsetzung bringen. Und die Pharmazeuten können sich auf ihre Kernkompetenzen verlassen, diese in die Waagschale werfen und gemeinsam für einen Kompetenzzirkel Apotheke vor Ort kämpfen. Durch empathische Beratung von Mensch zu Mensch, innovative Produkte, digitale Lösungen, Services und Prozessoptimierungen können sie den veränderten Marktanforderungen erfolgreich begegnen und sich als Gesundheitspartner für die Menschen positionieren. So haben Ortsapotheken eine Zukunft als unverzichtbare Partner der Patienten.

Präsentation der Referenten

Dr. Kerstin Kemmritz zum Thema - Welche Rolle spielen Apotheker/innen zukünftig in der Arzneimittelversorgung vor Ort?

Max Müller zum Thema - Wie treiben Versandapotheken die Digitalisierung im Sinne der Patienten voran?

Steffen Kuhnert zum Thema - Neue Generation der Apothekenführung: Wie behauptet sich die moderne Apotheke im digitalisierten Markt?

Flyer zur Veranstaltung

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