Medizinischer Cannabis zwischen hoher Nachfrage und regulatorischen Hürden: Wo stehen wir?

22. Eppendorfer Dialog zur Gesundheitspolitik nimmt Cannabis-Gesetz ins Visier

Referenten 22.
Sorgten für eine spannende Debatte über ein Gesetz in Nachbesserungsnöten: Dr. Oliver Tolmein, Dr. Detlev Parow, Karin Maag, Prof. Achim Jockwig und Prof. Winfried Hardinghaus (v.l.n.r.)

Gut gemeint, aber aus Sicht Vieler nicht zu Ende konkretisiert. § 31 Abs. 6 SGB V, das „Gesetz zur Änderung betäubungsmittelrechtlicher und anderer Vorschriften“ – kurz: das Cannabis-Gesetz –, offenbart ein Jahr nach Inkrafttreten Rechtsunsicherheiten. Ein hochkarätiger Expertenkreis debattierte beim 22. Eppendorfer Dialog am 11. April 2018 in Hamburg vor großem und engagiert mitdiskutierendem Auditorium die bisher gemachten Erfahrungen. Bei wachsender Erwartungshaltung der Patienten offenbaren sich zahlreiche Baustellen: Verunsicherte Ärzte durch fehlende Indikationsformulierungen, hohe Antragsablehnungszahlen durch die Krankenkassen, Lieferengpässe beim Medizinalcannabis und Fragen bezüglich der Preisgestaltung. Aber es gibt auch nennenswerte Erfolge: Geschätzte 14.000 Schwerkranke haben dank des neuen Gesetzes bisher eine Kostenerstattung für die Behandlung mit medizinischen Cannabis-Therapeutika erhalten.

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Der Eppendorfer Dialog zur Gesundheitspolitik stellte diesmal die Frage „Medizinischer Cannabis zwischen hoher Nachfrage und regulatorischen Hürden: Wo stehen wir?“ Chairman Prof. Dr. med. Achim Jockwig war es gelungen, einen Expertenkreis einzuladen, der die gesamte Bandbreite der Fragen rund um das Cannabis-Gesetz abbilden konnte.

Therapienutzen für Patienten überwiegt Evidenzdefizit

Den Anfang machte die Vertreterin des Bundesministeriums für Gesundheit, das für das Zustandekommen des Gesetzes verantwortlich zeichnet. Die gesundheitspolitische Sprecherin der CDU/CSU-Bundestagsfraktion Karin Maag erläuterte die Hintergründe einer Gesetzesverabschiedung zu einer Therapie, bei der die üblicherweise erforderlichen Evidenzstandards nicht angelegt werden konnten. Maag: „Es gibt eine Vielzahl von Patienten mit schwerwiegenden Erkrankungen, für die es keine von der Medizin anerkannte Alternative gibt, wenn die Standardtherapie nicht hilft.“ Es habe sich gezeigt – so Maag –, dass Cannabis eine gute Therapieoption bei Krankheiten wie beispielsweise Multipler Sklerose, AIDS, Epilepsie oder chronischen Schmerzen sein kann. Diesen Menschen sollte geholfen werden. Einen weiteren Anstoß hatten die sich neu ergebende Rechtslage und die kritische Frage des Eigenanbaus gegeben. Die Politik musste handeln und hat im März 2017 ein Gesetz von hoher politischer Bedeutung und großer Relevanz für den Versorgungsalltag in Kraft gesetzt. Seitdem ist die Nutzung von Cannabis zu medizinischen Zwecken möglich – aber eben nur zu diesen. Das Cannabis-Gesetz kontrolliert und steuert die Herstellung und Abgabe von Medizinalhanf. Alle Beteiligten müssen die betäubungsmittel- und arzneimittelrechtlichen Vorschriften einhalten.

„Wir stellen nochmals eindeutig klar, dass ein Patient nicht erst langjährige schwerwiegende Nebenwirkungen ertragen muss, bevor er die Therapie­alternative eines Cannabisarzneimittels genehmigt bekommen kann, und wir haben die Therapiehoheit der Ärzte gestärkt. Sie verordnen künftig aufgrund eigener Prüfung, jedwede Ausnahmegenehmigung entfällt.“ (Karin Maag)

Die Gesundheitspolitik hat aus ihrer Sicht eine vertretbare Lösung gefunden, indem sehr dezidiert Standards für die Versorgung mit Medizinalcannabis festgelegt wurden. Des Weiteren steht das Gesetz für Nachbesserungen offen, so Maag.

Krankenkassen fühlen sich vom Gesetz überfordert

Zu den im Gesetz fixierten Standards gehören neben Standardisierungsvorgaben für Anbau, Verarbeitung, Wirkstoffgehalt und Abgabe auch die Beschreibung der Parameter, unter denen Patienten ein Cannabis-Therapeutikum erstattet bekommen. Und hier liegt die Crux, denn die Formulierungen sind sowohl vielen Ärzten als auch den Krankenkassen zu wenig konkret. Das führt zur Verunsicherung auf Verordnungsebene und begründet eine Vielzahl der Antragsablehnungen durch die Krankenkassen. Dr. Detlev Parow (Geschäftsbereich Produkt- und Abrechnungsmanagement bei der DAK-Gesundheit) beschreibt den Entscheidungsweg bei der Krankenkasse, die laut Gesetz nur in begründeten Ausnahmefällen einen Versorgungsantrag ablehnen darf. Doch was heißt Ausnahmefall? „Da schwer erkrankt eine sehr vage Formulierung ist und die Indikationen völlig offen sind, sehen wir uns mit Ausnahme der Palliativversorgung in der Situation, zu fast 100 Prozent eine Begutachtung durch den MDK einholen zu müssen. Aufgrund der Begutachtungen, die zudem zum Ärgernis aller über die definierten Fristen hinaus Zeit in Anspruch nehmen, werden derzeit ca. 30 Prozent der Anträge abgelehnt“, so Dr. Parow. Die DAK sieht sich wie andere Versicherer auch gewissermaßen in der Schutzposition der solidarischen Versichertengemeinschaft. Dr. Parow beziffert die Behandlungskosten pro Patient per anno mit bis zu 30.000 Euro und spielt bei den Kosten zugleich auf die fehlende Therapieevidenz an. Er fordert eine zeitliche Befristung der Genehmigung mit anschließender Überprüfung. Bei dieser Aussage wurde allerdings in der Diskussion eingewendet, dass zum einen die Zubereitungen aus Cannabisblüten bei gleicher Wirkstoffdosierung nur zu einem Bruchteil dieser Therapiekosten führen, zum anderen die Reduktion anderer kostenintensiver Therapeutika, auf die der Patient unter Cannabis verzichten kann, nicht gegengerechnet worden ist und es zum Dritten keine Rechtfertigung für den Eingriff der Krankenkassen in die ärztliche Therapiehoheit geben darf.

„Die Krankenkassen sind nicht die dunkle Seite der Macht, wenn es um Obstruktionen geht. Der Weg von der Beantragung bis zur Genehmigung birgt zu viele Fallstricke.“ (Dr. Detlev Parow)

Cannabistherapie in der Praxis: Schmerzpatienten profitieren an erster Stelle

Der renommierte Palliativmediziner und Bundesverdienstkreuzträger Prof. Winfried Hardinghaus, Chefarzt der Klinik für Palliativmedizin Franziskus-Krankenhaus an der Charité Berlin und u. a. Vorsitzender Deutscher Hospiz- und PalliativVerband, betont gleich zu Beginn seiner Präsentation zum therapeutischen Nutzen der Cannabis-Medikation, dass er weder die dünne Evidenzlage noch die unkonkrete Indikationsbeschreibung für schlimm hält. Schließlich habe man die Metaanalyse und die Ergebnisse der CaPRis-Studie. Zudem schätzt Prof. Hardinghaus das Nebenwirkungspotenzial von Medizinalcannabis als gering ein – insbesondere im Vergleich zu vielen klassischen Arzneimitteln. Prof. Hardinghaus beschreibt den Einfluss der Cannabis-Wirkstoffe auf die Cannabis-Rezeptoren und zeigt auf, dass gerade die Kombination von THC und CBD positive Wirkung auf chronische Schmerzen, die Verbesserung von Übelkeit und Erbrechen sowie die Appetitsteigerung hat. Bei niedriger organischer Nebenwirkungsrate und geringem Suchtpotenzial der medizinischen Anwendungen müssen jedoch Wechselwirkungen beispielsweise mit Amphetaminen, Antihistaminika, Barbituraten sowie insbesondere mit Psychopharmaka und Dronabinol beachtet werden. Da die Wirkung von medizinischem Cannabis bekannt ist, begrüßt Prof. Hardinghaus, dass der Gesetzgeber die Indikationen nicht konkret vorgibt und somit den therapeutischen Einsatz nicht weiter reglementiert. Dadurch ergeben sich Chancen insbesondere für die onkologische Begleittherapie. „Wenn wir damit 30 Prozent Schmerzverbesserung bekommen, ist das viel und relevant“, so der Palliativmediziner. Viele Kollegen würden vor der Verordnung zurückschrecken, weil sie mit der Cannabis-Therapie nicht umzugehen wüssten. Diesen rät er, die angebotenen Verordnungshilfen für Ärzte zu verwenden. Ärzte im Auditorium fragen, warum es bei der hohen Rate an Nebenwirkungen von Schmerztherapeutika überhaupt vertretbar ist, dass diese verordnet werden, wenn es als Alternative den medizinischen Cannabis gibt.

„Ich möchte auf meiner Station in der Palliativmedizin nicht auf Cannabis verzichten müssen.“ (Prof. Winfried Hardinghaus)

Regulatorische Konflikte schüren Rechtsunsicherheit im Umgang mit der Cannabis-Medikation

Er wundere sich, dass man sich darüber wundert, dass in Deutschland bislang niemand an der Cannabistherapie geforscht hat, so der Medizinrechtanwalt und Vorstandsmitglied der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin Dr. Oliver Tolmein. Angesichts der bisherigen rechtlichen Situation von Cannabis in unserem Land sei es in keiner Weise erstaunlich, dass es keine Evidenz gebe. Mit welchem Anspruch hätte man in Forschung investieren sollen? Dr. Tolmein erläutert die regulatorische Situation, in der sich Verordner, Apotheker, Hersteller und Patienten mit Inkrafttreten des Cannabis-Gesetzes befinden. Diese ist von einem hohen Maß an Rechtsunsicherheit gekennzeichnet. Die Konflikte hätten in erster Linie mit einer Krise in der evidenzbasierten Medizin zu tun. Diese führe im Fall des komplexen Naturarzneimittels Cannabis dazu, dass regulatorische Einschränkungen und unkonkrete Formulieren auf den Schultern aller Beteiligten ausgetragen werden müssen. Tolmein: „Um mit diesem Konflikt klar zu kommen, müssen wir uns fragen, ob wir Evidenz als einziges Kriterium haben möchten, oder ob es auch andere Kriterien für den Patientennutzen gibt, die letztendlich zu Rechtssicherheit führen.“ An dieser Stelle meldet sich die im Auditorium anwesende Schutzpolizei zu Wort und berichtet über die Unsicherheit beispielsweise im Straßenverkehr. Die Forderung: Medizinalcannabis-Verordnungen sollten in der Fahrverkehrsordnung wie ein normales Medikament behandelt werden. Denn bisher muss Menschen, die medizinischen Cannabis regelmäßig einnehmen, die Fahrerlaubnis entzogen werden.

„Es ist von Seiten der Patienten bis vor dem Bundesverwaltungsgericht erstritten worden, dass wir heute über die Verordnung von Cannabis sprechen können.“ (Dr. Oliver Tolmein)

Es ist deutlich geworden, dass das Cannabis-Gesetz einen medizinischen Fortschritt in Gang gesetzt hat, der von einer großen Welle an Fragen und Unsicherheiten begleitet wird. Es gibt noch viel zu tun, damit die medizinische Cannabis-Therapie das tun kann, was sie kann: Menschen den Leidensdruck nehmen.

Präsentation der Referenten

Dr. med. Detlev Parow zum Thema Cannabis als Arzneimittel

Prof. Dr. med. Winfried Hardinghaus zum Thema Cannabis als Therapie

Dr. Oliver Tolmein zum Thema Cannabis als Medizin

Flyer zur Veranstaltung

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