Bewährte Wirkstoffe: Fundament der Arzneimittel Versorgung in Gefahr?

Erster digitaler Eppendorfer Dialog zur Gesundheitspolitik diskutiert, wie das Fundament unserer Arzneimittelversorgung gesichert werden kann

1. digitaler Eppendorfer Dialog

Weltweit entdeckt die pharmazeutische Forschung immer wieder Arzneimittel-Innovationen, die auf bereits in anderen Indikationen bewährten Wirkstoffen beruhen. Ein Beispiel von vielen ist der Krebs-Wirkstoff Azidothymidin, der später die Basis der erfolgreichen HIV-Therapie bildete. In der Corona-Pandemie erwies sich das bewährte Glucocortikoid Dexamethason schnell als effektiv bei schweren COVID-19-Verläufen. Bewährte und in hohem Maß versorgungsrelevante Arzneimittel haben ein vergleichsweise hohes Repositionierungspotenzial und werden doch stiefmütterlich behandelt. Können wir uns diesen Umgang mit bewährten, versorgungsrelevanten Wirkstoffen leisten, oder wie lässt sich das verändern? Diese Frage debattierten Referenten und Teilnehmer beim renommierten Eppendorfer Dialog zur Gesundheitspolitik am 19. Januar 2021.

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Referenten

Der Corona-Situation geschuldet fand der Eppendorfer Dialog zu Gesundheitspolitik erstmals komplett digital statt. Chairman Prof. Dr. med. Achim Jockwig (Vorstandsvorsitzender des Klinikums Nürnberg) moderierte live aus dem Studio. Zugeschaltet waren Prof. Dr. Theodor Dingermann (Pharmazeut, Seniorprofessor an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt a. M.), Dr. Norbert Gerbsch (Leitung Innovation & Healthcare Management, G. Pohl-Boskamp GmbH & Co. KG), Martin Litsch (Vorstandsvorsitzender AOK-Bundesverband) und Karin Maag, MDB (Gesundheits­politische Sprecherin der CDU/CSU-Bundestagsfraktion). Auch in diesem Online-Format entbrannte eine spannende Debatte.

Hohes Potenzial, unattraktive Bedingungen, fatale Auswirkungen

Prof. Theodor Dingermann zitierte den Medizinnobelpreisträger Sir James W. Black: „Die ertragreichste Grundlage für die Entdeckung einer neuen Arznei ist, mit einem altbewährten Medikament zu beginnen.“ und zeigte auf, wie häufig sich bekannt, erforschte Moleküle mit umfangreicher Datengrundlage bei der Repositionierung als vorteilhaft erwiesen haben. Azidothymidin/AZT in der HIV-Therapie, Thalidomid gegen, Sildenafil zur Behandlung der erektilen Dysfunktion, der Diabetes-Wirkstoff Sitagliptin, der die Abstoßungsreaktion nach Stammzellentrans­plantation reduziert, oder das Antidiabetikum Metformin, dass heute ein Star in der seriösen Antiaging-Forschung ist. „Noch längst ist das Potential vieler bewährter und sicherer Wirkstoffe nicht ausgeschöpft“, so Dingermann. Der finanzielle Aufwand bis zur Markreife läge bei einer Neupositi-onierung deutlich unter den 1,5 Milliarden Dollar, die die Entwicklung eines neuen Moleküls koste.

Die Ausfallrate bei der Erforschung neuer Moleküle würde auf 1:10.000 geschätzt, während sie bei bekannten Substanzen eher bei 1:10 läge. Dingermann plädierte dafür, die Forschung an bewährten Wirkstoffen attraktiver zu machen und den engagierten Unternehmen einen angemessenen Investitionsausgleich in Aussicht zu stellen. „Preise für neuentwickelte Moleküle erscheinen absurd teuer. Aber auch Preise für alte Arzneimittel können absurd sein. Wenn eine Dosis Fluorouracil weniger als eine Dose Cola kostet, müssen wir nachdenken.“

Regulierung patentfreier Wirkstoffe verhindert die Arzneimittelforschung

Die Seite der pharmazeutischen Industrie in dieser Debatte vertrat Dr. Norbert Gerbsch. Er zeigte auf, dass Arzneimittel mit bewährten, patenfreien Wirkstoffen mit rund 95 Prozent der Verordnungen die Grundversorgung in Deutschland sichern. Allerdings entfallen auf diese Arzneimitteln nur etwa 50 Prozent der Umsätze. Rund 56 Prozent aller abgegebenen Arzneimittelpackungen laufen unter Rabattvertrag und müssen entsprechend preiswert sein. Darüber hinaus werden inzwischen über 63 Prozent der für die Herstellung erforderlichen Qualitätszertifikate in Asien gehalten. Bewährte Wirkstoffe sind zunehmend von Lieferengpässen betroffen: Waren im Jahr 2015 beim BfArM 7 Lieferengpässe gemeldet, so waren es im letzten Jahr 742. Gerbsch wies auf den zunehmenden wirtschaftlichen Druck hin, den er auch in den Rabattvertragsregelungen begründet sieht. „Damit einhergehen ungünstige Marktkonzentrationen und immer fragiler werdende Lieferketten.“ Das Schwächen der wirtschaftlichen Grundlage für bewährte Wirkstoffe könnte durch Weiterentwicklung aufgefangen werden. Gerade in der Pandemie-Zeit, in der medikamentöse Behandlungsoptionen dringend und schnell gebraucht werden, zeigen sich die Vorteile bekannter Wirkstoffe. Gerbsch stellte die aktuelle COVARI-Studie vor. Sie prüft das bewährte Gelomyrtol-Wirkstoffdestillat für eine Verbesserung und Verkürzung des Krankheitsverlaufs bei COVID-19-Patienten und hat aufgrund der Datenlage schnell eine Studiengenehmigung erhalten. „Warum“, so Gerbsch „blockiert das Erstattungssystem durch Festbetragsregelung und Preismoratorium ausgerechnet die Forschung in einem Bereich, der potenziell eine schnellere Therapieantwort liefern kann?“

AMNOG-Mechanismen auf bewährte Wirkstoffe mit neuer Indikation anwenden

Der AOK-Bundesvorstandsvorsitzende Martin Litsch machte deutlich, dass die Versorgung mit den relevanten, in der Regel generischen Wirkstoffen nur wirtschaftlich möglich ist, weil es Instrumente wie Rabattverträge und Festbeträge gibt. „Wenn Patent-Arzneimittel bei einem Verordnungsanteil von nur 7 Prozent beinah 50 Prozent der Gesamt-Arzneimittelkoste ausmachen, kriegen wir das nur gestemmt, weil wir bei den bewährten Arzneimitteln gute Steuerungselemente haben.“ Jedes 5. Präparat koste mehr als 100.000 Euro pro Patient und Jahr. Die GKV brauche neue wirtschaftliche Perspektiven bei Marktneueinführungen. Litsch schlug einen "fairen Interimspreis“ vor, der mit Festlegung des Erstattungsbetrags rückwirkend ersetzt werden könnte. In Bezug auf die Arzneimittel-Liefersicherheit forderte er ein Transparenz- und Frühwarnsystem über die gesamte Lieferkette. Die AOK kämpft aktuell vor Gericht, um Faktoren wie Herstellungsverfahren in die Rabattvertragsaus­schreibungen integrieren zu können. Auf die Preisbildung bezugnehmend äußerte Litsch die Ansicht, dass für neue Indikationen bei bewährten Wirkstoffen die Mechanismen des AMNOG greifen sollten.

Politik fordert pharmazeutische Industrie auf, sich mit konstruktiven Vorschlägen zu beteiligen

Für Karin Maag, die gesundheitspolitische Sprecherin der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, steht ausßer Zweifel, dass eine Grundsicherung für generische Arzneimittel notwendig ist. „Wir werden auch die pharmazeutischen Regulierungsinstrumente in Frage stellen“, so Maag. Mittlerweile seien in § 35 SGB V bei der Festbetragsregelung bereits Abweichungen zugelassen. Nun soll auch das Thema „bewährte Wirkstoffe“ aufgegriffen werden. Bei den Rabattverträgen habe man im GSAV im August 2019 bereits geregelt, dass die Vielfalt der Anbieter und die Notwendigkeit einer ungebrochenen Lieferfähigkeit zu berücksichtigen ist. „Wir können uns vorstellen, die Herstellung in Europa bei der Ausschreibung und auch im Festbetragssystem zu berücksichtigen. Auch der Gesundheitsminister hat sich dazu bereits eingelassen.“ Maag forderte insbesondere die pharmazeutische Industrie auf, Ideen und Vorschläge einzubringen. Sie betonte, wie wichtig für sie eine Veranstaltung wie der Eppendorfer Dialog zur Gesundheitspolitik ist: „Hier höre ich, wo wir eingreifen müssen.“

Fazit: Bewährte Wirkstoffe besitzen ein großes Potenzial, die Gesundheitspolitik will dafür sorgen, dass ihre Weiterentwicklung für die forschende Industrie zukünftig attraktiver wird.

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